In jüngerer Zeit beunruhigen Meldungen über Massenentlassungen bei den großen U.S. Tech-Firmen, allen voran Microsoft, Meta, Alphabet und Amazon. Aber auch bei der SAP, Zalando, IBM und Accenture trennt man sich von einer größeren Mitarbeiteranzahl. Zusätzlich haben Startups zunehmend Probleme, sich über Risikokapitalgeber zu finanzieren und die Zahl der Firmeninsolvenzen scheint Berichten zufolge spürbar zuzunehmen. In den Medien wird teilweise eine düstere Prognose gezeichnet - auch für den IT-Sektor.
Parallel dazu wird seit Jahren in den Medien immer wieder vom Fachkräftemangel im IT-Bereich berichtet, auch wieder ganz aktuell kurz vor der Erstellung dieses Artikels. Nicht nur Unternehmen, auch der öffentliche Sektor beklagt den Mangel an Arbeitskräften mit ausreichenden Kenntnissen und Fähigkeiten, um die Digitalisierung der Gesellschaft weiter voranzutreiben.
Wie passen diese widersprüchlich wirkenden Meldungen zusammen? Schauen wir uns doch ein paar Aspekte mal etwas näher im Detail an:
In den ersten Pandemie-Jahren lief es für die meisten der Big-Tech-Firmen rosig: Viele Menschen blieben - oft zwangsweise - zuhause und arbeiteten von dort, nahmen am Online-Unterricht teil, bestellten online alle Dinge des täglichen Bedarfs und streamten das bisschen Kultur-, Vereins- und Sportaktivität, was noch übrigblieb, live in ihre Wohnzimmer. Für all dies wurden nicht nur technische Geräte benötigt, für die aufgrund eingesparter Ausgaben im Kultur- und Reisebereich nun mehr Geld zur Verfügung stand. Auch die Werbeeinnahmen der Tech-Riesen sprudelten aufgrund der nicht mehr enden wollenden Screen-Time der Facebooker, Instagrammer und Netflix-Binge-Watcher. All dies bescherte den Tech-Riesen, allen voran Amazon, Netflix, Meta, Microsoft, Alphabet und Apple, Traumgewinne und führte zu massiv gesteigerten Einstellungszahlen.
Auch bei den IT-Dienstleistern führte die Pandemie durch den nochmals gesteigerten Digitalisierungs- und Transformationsdruck zu deutlichen Umsatzanstiegen und Einstellungen. Angetrieben durch den durch die Pandemie plötzlich enorm an Bedeutung gewonnenen Bedarf zur Digitalisierung von Arbeitsprozessen, so dass diese auch unabhängig vom Arbeitsort durchgeführt werden können, kam es zu vermehrten Auftragseingängen bei den großen IT-Beratungshäusern.
Doch die Branche muss aktuell erleben, dass sich das Wachstum nicht unbegrenzt fortsetzen lässt. Mit der Normalisierung unser aller Alltag und den trüben Zukunftsaussichten durch die hohe Inflation und Sorgen einer globalen Rezession gehen die Einnahmen aus Online-Verkäufen und Werbung zurück, Unternehmen investieren weniger in IT-Projekte. Dies hat bei den großen Tech-Unternehmen zu einer Reihe von strategischen Entlassungen geführt. Doch nicht alle Entlassungen lassen sich darauf zurückführen. Bei SAP sind der Grund für den Stellenabbau strategische Veränderungen mit Rückbesinnung auf das Kerngeschäft. IBM entlässt knapp 4000 Mitarbeiter, da die wichtige Cloud-Sparte des IT- und Beratungskonzerns langsamer wächst.
Doch trotz dieser Entlassungen ist die Gesamtzahl der Mitarbeiter der Firmen im Vergleich zu den Vorpandemiejahren oft gestiegen, denn im Zuge der Pandemie wurden meist deutlich mehr Mitarbeiter eingestellt, als jetzt entlassen werden. Zusätzlich werden, wie im Beispiel IBM, in einigen Bereichen zwar Angestellte entlassen, in anderen aber weiterhin nach neuen Talenten gesucht. Im Vergleich zur Pre-Pandemie gibt es also immer noch einen Mitarbeiterzuwachs, welcher aber quasi im Nachhinein nach unten „wachstumskorrigiert“ wurde.
Die aktuelle Stagnation im Startup-Sektor ist ebenfalls auf die getrübten Zukunftsaussichten und die steigenden Zinsen zurückzuführen. Investoren halten sich aktuell eher zurück - nach Rekordjahren fließt jetzt weniger Risikokapital in Startups. Mit sinkenden Investitionen sinkt auch die Zahl der Neueinstellungen bei Startups bzw. finden teilweise Entlassungen statt, sofern dringend benötigte Neufinanzierungsrunden platzen. Eines der prominentesten Beispiele ist das schwedische Fintech Klarna, welches 2022 zehn(!) Prozent der Belegschaft entlassen hat. Aber auch hierzulande haben sich Startups von Mitarbeitern getrennt, wie zum Beispiel N26, Delivery Hero oder Gorillas.
Im ersten Halbjahr des Jahres 2023 haben Firmeninsolvenzen in Vergleich zum identischen Vorjahreszeitraum laut WitschaftsWoche „spürbar“ zugenommen - um etwa 18%. Davon betroffen ist auch die IT-Branche: es stellen „deutlich mehr IT-Dienstleister Insolvenzantrag als vor Corona“. Unter der Überschrift „Systemabsturz“ ist in einer Balkengrafik ein für 2022 auch deutlich höherer Balken zu sehen als im Vorjahr, obgleich eine direkte Angabe zur absoluten Größe fehlt und erst beim Überfahren der jeweiligen Jahresbalken erscheint.
Dies mag auf den ersten Blick beunruhigen. Doch schaut man sich die Entwicklung über einen längeren Zeitraum an, so werden zwei Dinge deutlich:
Erstens, liegen die aktuell beantragten Regel-Insolvenzen (aller Branchen zusammen) in etwa auf dem Niveau vor der Corona-Pandemie, also dem Jahr 2019.
Und zweitens, betrachtet man die absoluten und nicht relativen Zahlen, so ergibt sich, je nach Quelle, für den IT-Sektor für die vergangenen Jahre das folgende Bild:
Auch wenn die Zahlen aufgrund unterschiedlicher Quellen und möglicherweise unterschiedlicher Ermittlungs- und Berechnungsmethoden nicht unbedingt 1:1 vergleichbar sind, so wird doch deutlich, dass sich die Anzahl an Insolvenzen in der IT-Branche in einem Größenordnungsbereich von unter 0,5% der Gesamtunternehmen der Software und IT-Dienstleistungsbranche befindet. Ich würde so weit gehen zu behaupten, dass eine solche Größenordnung in wissenschaftlichen Experimenten als statistisches Grundrauschen betrachtet werden würde. Hier bereits von einem nachhaltigen Trend zu sprechen, halte ich für gewagt. In einem Artikel des Maklermagazins wird ein Vertreter der Kommission Kreditversicherung im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV) zitiert mit den Worten, die aktuelle Situation sei „allerdings keine Insolvenzwelle, sondern eine Normalisierung nach Jahren mit ungewöhnlich wenigen Insolvenzen“.
Die Entwicklung der reinen Gesamtzahlen an ITK-Unternehmen zu betrachten, verbietet sich an dieser Stelle, da neben Insolvenzen Firmen auch durch andere Umstände, wie zum Beispiel geplante Schließung, Aufgabe, Abwanderung oder Fusion vom Markt „verschwinden“ können. Diese Kennzahl stellt damit noch weniger bedingt ein Indikator für die wirtschaftliche Lage einer Branche dar.
Anders als bei den Big-Techs und Startups und auch anders, als dies die Insolvenzstatistiken mancher „Fachartikel“ vermuten lassen könnten, sah die Situation zumindest letztes Jahr bei den großen IT-Dienstleistern in Deutschland aus. Da die Themen der Digitalen Transformation auch nach der Corona-Pandemie weiterhin weit oben auf der Agenda der meisten Konzerne, KMUs und auch der Öffentlichen Verwaltung stehen, haben alle großen IT-Dienstleister 2022 laut Lünendonk sowohl an Umsatz als auch Mitarbeiterzahlen zugelegt und stellen auch weiterhin Personal ein. Auch der Verband bitkom sieht die Branche weiter auf Wachstumskurs
Nachfolgend exemplarisch ein Auszug aus der Lünendonk-Liste, mit den Entwicklungen der 5 umsatzstärksten IT-Beratungsunternehmen in Deutschland:
Es wird deutlich, dass aus der Entwicklung in anderen Ländern und Branchen nicht direkt auf die Situation im eigenen Land geschlossen werden kann. Es gibt deutliche regionale und auch sektorale Unterschiede. In Deutschland gibt es keinen vergleichbar großen Big-Tech-Sektor wie in den USA, in welchem einzelne Firmen, welche in großem Maße von Werbeeinnahmen und damit dem Konsumklima abhängig sind, große Mengen an Arbeitskräften binden. Die IT-Branche hierzulande ist, laut bitkom-Statistiken, anders strukturiert, mit einem größeren Anteil an Mitarbeitern in Kleinunternehmen bis maximal 1Mio EUR Jahresumsatz. Strategische Fehlentscheidungen und wirtschaftliche Herausforderungen einzelner Unternehmen wirken sich somit nicht auf eine so hohe Zahl an Beschäftigten aus. Zusätzlich wurden einer Umfrage von Capgemini zufolge die IT-Budgets der befragten Unternehmen während der Pandemie nicht gekürzt und IT-Projekte weiterhin durchgeführt oder auf einen späteren Startzeitpunkt verschoben, was die Zukunftsaussichten der IT-Beratungen zusätzlich verbessert.
Auch bei IT-Freelancern scheint, laut einer aktuellen Studie von freelancermap, die Auftragslage positiv zu sein, mit weiter steigenden Stundensätzen. Die Stimmung ist etwas gedämpfter als 2022, aber weiterhin überwiegend positiv. Vergleicht man die zwischenzeitlich auf Halbjahresbasis im Oktober 2022 und Februar 2023 durchgeführten „Krisenbarometer“-Umfragen, so ist ein leicht positiver Trend erkennbar, mit einem leichten Rückgang der Existenzängste und einer leichten Verbesserung der Auftragslage. Ein kurz vor der Freelancer-Studie im Januar 2023 erschienener Artikel der Golem Karrierewelt zeichnet hier noch ein düstereres Bild, verglich aber Kennzahlen vom Oktober 2022 mit denen vom Jahresbeginn 2022.
Es wird deutlich, dass auch der Betrachtungszeitraum und das „Timing“ eines Artikels eine wichtige Rolle bei der Interpretation der Daten spielen.
Ganz weit oben auf den aktuellen IT-Projekt-Agenden, und damit auch mit dem meisten Bedarf an Fachkräften, stehen aktuell die Themen KI, Cloud-Transformation, IT-Modernisierung und Softwareentwicklung. Auch wenn seit Jahren sehr allgemein vom Fachkräftemangel berichtet wird, so muss dieser doch etwas differenzierter betrachtet werden. Die Qualifikationen, nach denen mit Nachdruck im IT-Bereich gesucht wird, haben sich im Laufe der Jahr(zehnt)e verändert. Wurde in den Anfangstagen des Internets vor allem nach Web-Entwicklern gesucht, um dem Bedarf an Web-Präsenzen und Online-Shops im damals noch neuem Medium Internet zu decken, so stehen heutzutage vor allem Cloud-Entwickler, Data-Scientists und IT-Security-Spezialisten auf den Most-Wanted-Listen der IT-Headhunter.
Im Gegensatz dazu wird der Bedarf an Anwendungsspezialisten, welche zum Teil in manuelle (Eingabe-)Prozesse im Backoffice von Unternehmen eingebunden sind, vermutlich in den nächsten Jahren eher sinken. Das liegt zum einen an der Möglichkeit, manuelle Prozesse mit Technologien wie Softwarerobotern (Robot Process Automation) zu substituieren. Zum anderen, weil uns mit der Einführung und Weiterentwicklung von KI-gestützten IT-Systemen eine der größten Veränderungen der Arbeitswelt bevorsteht, welche Aufgaben oder auch ganze Jobpositionen obsolet machen wird.
Gerade im IT-Sektor gilt daher die konsequente und lebenslange Bereitschaft, neugierig zu bleiben, zu lernen und sich weiterzuentwickeln als Schlüssel, um auch zukünftig eine gesuchte Fachkraft zu bleiben.
Also alles rosig für die IT-Branche? - Ein klares Jein!
Die unsichere Wirtschaftslage und teilweise düstere Zukunftsaussichten gehen auch an der IT-Branche nicht spurlos vorbei und führen bereits zu verhalteneren Investitionen in Startups und zu weniger stark wachsenden IT-Budgets in der Wirtschaft. Erste Beratungsunternehmen wie IBM und Accenture spüren das vorsichtigere Investitionsverhalten großer Kunden und haben darauf bereits mit „strategischem Personalabbau“ reagiert.
Und dennoch wird die digitale Transformation weiterhin in allen Lebensbereichen anhalten und auch zukünftig IT-Spezialisten benötigen, die diese durchführen. Möglicherwiese werden sich die nachgefragten Skills ändern, da Aufgaben oder ganze Stellen zukünftig von „smarten“ IT-Systemen, auch mit Hilfe Künstlicher Intelligenz erledigt werden.
Die nahe Prognose für die IT-Branche sieht damit - zumindest in Deutschland - deutlich besser aus, als einige „alarmierende“ Berichte, auch großer Wirtschaftsmedien, auf den ersten Blick erscheinen lassen. Es bleibt daher, wie auch bei allen anderen Themengebieten über die berichtet wird, wichtig, Kennzahlen, Daten und „Fakten“ zu hinterfragen, objektiv richtig einzuordnen und den Kontext korrekt zu beleuchten.
Dies sollte eigentlich Aufgabe der Journalisten solcher Artikel sein. Leider trägt das auf Monetarisierung durch Click-Bait und vermeidlicher Dramatisierung ausgerichtete aktuelle Wirtschaftsmodell der meisten Medien nicht dazu bei, eine solche objektive Berichterstattung zu fördern.
Dies halte ich für eine gefährliche Entwicklung, denn eine einseitige, unreflektierte, übertrieben negative oder auch, durch das Weglassen von Kontext und korrekter Einordnung, pseudo-objektiv wirkende Berichterstattung, zum Beispiel zur konjunkturellen Entwicklung und Investitionsstimmung, kann genau diese negativ beeinflussen und zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Letztendlich kann eine solche Berichterstattung bei Entscheidern ein bestimmtes Verhalten, wie zum Beispiel verminderte Investitionen, überhaupt erst auslösen, und damit aktiv unsere Wirtschaft und durch daraus gegebenenfalls resultierende Arbeitsplatzverluste, auch unsere Gesellschaft nachhaltig schädigen.
Ich wünsche und erwarte mir von Journalisten und Medien an dieser Stelle, dass sie sich ihrer Verantwortung als objektive gesellschaftliche Kontrollinstanz wieder bewusster werden und ihr konsequent nachgehen!
Quellen:
1. Tagesschau - Fachkräftemangel in IT-Berufen auf Rekordniveau)
2. Businessinsider - Die meisten Startups haben gerade Geldsorgen
3. Spiegel - Investitionen in deutsche Start-ups brechen ein
4. Heise - Big-Tech-Massenkündigungen: Die fetten Jahre sind vorbei
5. zdf.de - Erst US-Tech-Riesen, jetzt SAP : Jobabbau in Deutschland: Was dahintersteckt (Link wurde durchs ZDF entfernt)
6. Manager Magazin - Auch IBM entlässt Tausende Mitarbeiter
7. Manager Magazin - Massenentlassungen bei Europas wertvollstem Start-up
8. Gründerszene - N26 entlässt über 70 Mitarbeiter
9. Spiegel - Delivery Hero kündigt neue Entlassungen an
10. Golem - Gorillas streicht mehr als 300 Stellen
11. WirtschaftsWoche - In diesen Branchen gibt es weniger Pleiten als vor Corona
12. Statista - IT-Unternehmen kaum von Insolvenzen betroffen
13. Destatis - 13,9 % mehr beantragte Regelinsolvenzen im Juni 2023 als im Juni 2022
14. FAZ - Zahl der Firmenpleiten nimmt zu
15. Tagesschau - Meldungen zur aktuellen Konjunktur
16. Statista - Anzahl der Unternehmen in der IT-Branche in Deutschland von 2008 bis 2020
17. bitkom - Anzahl ITK-Unternehmen bis 2021
18. bitkom - ITK-Marktzahlen inkl. Prognosen für 2023&2024
19. Lünendonk-Liste 2023 -Führende IT-Beratungs- und Systemintegrations-Unternehmen in Deutschland in 2022 (Link wurde durch Lünendonk leider entfernt)
20. Statista - IT-Unternehmen kaum von Insolvenzen betroffen
21. #242428 (Destatis - Insolvenzen nach Jahren)
22. Zunahme bei den Firmeninsolvenzen
23. Capgemini - Studie IT-Trends 2021
24. golem - IT-Freelancer spüren zunehmend die Krise
25. Freelancermap - Inflation & Energiekrise: So geht es dem freien Projektmarkt
26. Freelancermap - Freelancer-Kompass 2019-2023
27. Freelance - Große Freelancer-Studie: Selbständige in Deutschland sehen Zukunft optimistisch (Link wurde durch freelance.de leider entfernt)
28. Einstellungs-Stopp bei IBM: KI soll tausende Stellen ersetzen
29. Welcher Arbeitsplatz ist vor der KI noch sicher
30. IT-Fachleute nicht mehr so stark auf dem Arbeitsmarkt gefragt wie vor einem Jahr